Pressemitteilung der Unmündigen, erschienen in der Zeitschrift "Die Brücke" vom 9.10.98

Rettet die Bundestagswahlen 1998

Briefwahlpartnerschaften
- die einzige Lösung!!
am 27. September 1998 ist es soweit!

In Deutschland kann man regelrecht spüren, wenn eine Wahl bevorsteht. Wie sonst kaum beherrschen MigrantInnen dann den Diskurs an deutschen Stammtischen und in den Medien. Freilich nicht, indem sie aktiv auf den Meinungsbildungsprozess Einfluss nehmen, sondern indem ihnen selbstverständlich die Rolle des schwarzen Alis für gesellschaftliche Missstände zugeschrieben wird. Die einschlägigen Schlagwörter sind allen bekannt: „Kriminalität“, sei es organisierte oder alltägliche, „Mafiastrukturen“, „innere Sicherheit“ oder auch das sog. „Heer der Arbeitslosen“ und die „Soziale Hängematte“ werden nicht selten mit MigrantInnen in Verbindung gebracht. Solange MigrantInnen politische Rechte verwehrt werden, werden sie Verfügungsmasse für die Parteien bleiben und auch bei den nächsten Wahlen die Sündenbockfunktion für eine verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik einnehmen.

Diese Diskriminierung und Entmündigung von MigrantInnen ist mit demokratischen und republikanischen Prinzipien nicht zu vereinbaren. Wir wollen daher in der Hauptsache die Änderung des Artikels 116 GG, der die Staatsbürgerschaftsfrage in Deutschland in wilhelminischer Tradition regelt. Dieser Artikel soll dahingehend reformiert werden, dass nicht nur jene Deutsche sind, die von deutschen Eltern abstammen, sondern auch die, die auf deutschem Boden geboren werden. Mit dieser Forderung ist auch eine Lockerung der Einbürgerungskriterien und die Einführung eines Antidiskriminierungsgesetzes als Schutz von Minderheiten vor institutioneller und gesellschaftlicher Diskriminierung verbunden. Solche politischen und rechtlichen Signale sind notwendig, um effektive Schritte gegen den Rassismus in Deutschland unternehmen zu können. Und unter Rassismus sind nicht nur die DVU-Wählerschaft in Sachsen-Anhalt und die „national befreiten Zonen“ in Brandenburg gemeint. Noch stärker, weil ständig, sind die MigrantInnen in Deutschland mit dem Rassismus der politischen Institutionen und Eliten konfrontiert.

Diese Dimension des Rassismus ist von Wahl zu Wahl auf eine subtile Art immer extremer geworden. Die Parole der Republikaner „Das Boot ist voll“ zu Beginn der 90er Jahre haben die Volksparteien übernommen und in modifizierter Form den heutigen Bedingungen angepasst. Wir sind schon so weit, dass der Kanzlerkandidat der SPD, Gerhard Schröder, die Abschiebung von kriminellen Ausländern fordert oder der Obergewerkschaftler Zwickel deutsche Arbeitsplätze nur Deutschen vorbehalten möchte. Im Kampf um die Gunst der WählerInnen, lassen sich die bayerischen Parteien zu immer kreativeren Vorhaben verleiten: Die CSU möchte die Familien von straffällig gewordenen Kindern gleich mitabschieben. Ihre Weltoffenheit demonstrierte die CSU kürzlich durch die Idee, in Ausländerbehörden erwünschte von unerwünschten Ausländern zu trennen, da man dem brasilianischen Geschäftsmann die „straffälligen Ausländer“ in der gleichen Warteschlange nicht zumuten wollte. Der Trend der zunehmenden Diskriminierung von MigrantInnen in den letzten Jahren wurde begleitet von einer anderen Entwicklung in der politischen Kultur Deutschlands. Die Linke verfiel in einen narkoseartigen Zustand, was nicht zuletzt auch an der gesetzlichen Beschneidung von Bürgerrechten deutlich zutage trat. Der Große Lauschangriff wurde zwar heftig kritisiert, aber dabei blieb es auch.

Der immer mehr verstummende Protest legitimiert letztendlich immer verschärftere Ausländergesetze. Vor fünf Jahren wurde noch bei der Asylgesetzänderung das Bundestagsgelände von Demonstranten umzingelt. Wollte man Aktionen als Indikator für Bewusstseinszustände betrachten, so müsste sich das kollektive bundesdeutsche Gedächtnis momentan genauso stark an diese berühmte Asylgesetzänderung erinnern wie an die Einführung des Kindervisums vor über einem Jahr: nämlich gar nicht. Bis auf die Betroffenen scheint es niemanden zu interessieren, dass die Bestimmungen des Kindervisums Anfang Juli diesen Jahres voll in Kraft getreten sind. Der Rassismus in Deutschland hat solche Ausmaße angenommen, dass eine dreijährige Haftstrafe zur Abschiebung eines straffälligen „Ausländers“ reicht. Wo diese Person letztendlich geboren und kriminell geworden ist, spielt überhaupt keine Rolle.

In aller Regel sind vor Wahlkämpfen auch kritische Stimmen nicht zu überhören, die davor warnen, das Thema „Ausländer“ im Wahlkampf zu missbrauchen. Es bleibt aber meistens bei Unterschriftensammlungen, Mahnungen und Solidaritätsbekundungen. Aktionen bleiben aus. Auch wir wollen die Gunst der Stunde nutzen und die Wahl für unsere Zwecke missbrauchen. Wir wollen deutsche StaatsbürgerInnen zu einer neuen Form der Solidarität bewegen, um auch der ausländischen Bevölkerung ein authentisches Gefühl der Demokratie zu vermitteln. Im Mittelpunkt steht hier die Aktion „Rettet die Wahl ‘98 - Briefwahlpartnerschaften “.

Wir alle wissen, dass am 27. September Bundestagswahlen sind. Die Frage danach, wer die Wahlen gewinnt oder welche möglichen Koalitionen es geben könnte, ist in allem Munde. Was überhaupt nicht, oder wenn nur vereinzelt, thematisiert wird, ist die Tatsache, dass über 8% der Bevölkerung an diesen Wahlen nicht teilnehmen dürfen. Wir wollen die wahlberechtigte Bevölkerung öffentlich dazu aufrufen, gegen diesen undemokratischen Zustand zu protestieren. Die Wahlberechtigten werden aufgefordert, Briefwahl zu beantragen, um dann den Wahlbogen von einem Nicht-Wahlberechtigten ausfüllen zu lassen. Besonders jene NichtwählerInnen sollen angesprochen werden, die bislang in den Wahlen keine Gelegenheit sahen, mit ihren Stimmen etwas zu bewirken. Dabei steht natürlich im Rahmen unserer Aktion nicht der Akt des Wählens bzw. des Wählenlassens im Mittelpunkt, sondern die Arbeit davor. Ein Großteil der Bevölkerung wird diese Aktion als eine Provokation empfinden, wogegen wir nichts hätten. Es soll deutlich werden, dass am Wahltag, und besonders am Wahltag, die Mehrheit die Macht über die Minderheit hat, nämlich wenn die MigrantInnen vom politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen werden, der sich demokratisch nennt.

Das Aktionskomitee von und für BürgerInnen ohne deutschen Pass