„Das Wunder von Bern“
oder:
wo die künstlerische Freiheit aufhört und Geschichtsverfälschung anfängt

(1) Ein Kinofilm ist keine Dokumentation. Insofern kann nicht nachhaltig genug davor gewarnt werden, von einem Kinofilm dokumentarische Multiperspektivität und Vollständigkeit zu erwarten. Genreunterschiede auszublenden bedeutet in so einem Fall, die Sinnstiftung und Ästhetik des jeweiligen künstlerischen/ journalistischen Rahmens zu verfehlen.

(2) Die Gattung des ‘historischen Films’ lebt von der Spannung, zwischen Fiktionalität und Authentizität zu wechseln. Und diese ist gleichsam die Quelle ihres Unterhaltungswerts und die Wurzel ihres möglichen Problems.

(3) Der Kinofilm „Das Wunder von Bern“ besteht aus einer Komposition von fiktivem und historischem Material. Er lässt drei Erzählstränge beim ultimativen Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte zusammenlaufen – dem Erringen des Fußballweltmeistertitels am 4. Juli 1954 durch die Deutschen.

(4) Die beiden fiktionalen Erzählstränge kreisen um einen Reporterehepaar und um den Ruhrpott-Jungen Matthias. Der dritte Strang verfolgt den Weg der deutschen Nationalmannschaft, der nach Regisseur Sönke Wortmann authentisch erzählt ist: „Wir haben uns die Fakten von anderen [als Helmut Rahn] schildern lassen. Vor allem Horst Eckel hat uns erzählt, wie der Umgangston war, was Herberger gesagt hat oder wie die Taktik aussah. Was in der Kabine und auf den Zimmern geredet wurde, ist alles authentisch“ (Mannheimer Stadtmagazin Meier, Oktober 2003).

(5) Die Authentizität in der Erzählung der deutschen Nationalmannschaft wird nur dann verlassen, wenn sie auf die beiden anderen, fiktiven Stränge trifft (eine Ausnahme stellt die Szene mit der Putzfrau dar); beispielsweise als das Reporterehepaar den frustbesoffenen Außenstürmer Rahn zum Mannschaftshotel trägt oder der Glücksbringerjunge Matthias rechtzeitig gegen Ende des Finals im Stadion erscheint und Helmut Rahn den Ball zuschmeißt, so dass dieser den 3:2 Siegtreffer markieren kann.

(6) Selbstredend ist Authentizität nicht gleichbedeutend mit Vollständigkeit. Denn insbesondere in einem Spielfilm, auch in einem in wesentlichen Teilen authentisch angelegten historischen Film, kommt es darauf an, welche Geschichte der Filmemacher erzählen will, und nicht, was sich um das historische Dokument im Ganzen ereignet hat.

(7) Die authentische Schilderung der deutschen Nationalmannschaft legt aber die Erwartung nahe, dass, wenn gleichwohl nicht ‘alles’, dann doch ‘alles Wesentliche’, was sich um das ‘Wunder von Bern’ ereignete, auch Erwähnung findet. Eine detailverliebte, aber historisch wichtige Szene wie die zwischen Bundestrainer Sepp Herberger und Zeugwart Adi Dassler, in der der spätere Firmengründer von Adidas seine neueste Erfindung, die abschraubbaren Stollen vorstellt, legt dem Zuschauer eine solche Betrachtungsweise nahe.

(8) Der Film erfüllt größtenteils diese mit der Authentizität zusammenhängende Erwartung nach den wesentlichen Ereignissen; bis, ja bis die deutschen Fußballspieler den schwererkämpften Pokal empfangen. In dem Moment klafft die historische Wahrheit und ihre filmische Darstellung weit auseinander.

(9) Im Film sind nach dem Schlusspfiff aufgelöste Freudentaumelszenen im Berner Wankdorfstadion bzw. in Deutschland vor den Fernsehern und die Pokalübergabe zu sehen.

(10) Historisch trug sich aber noch etwas anderes zu: Die angereisten deutschen Schlachten-Bummler stimmten die erste Strophe des Deutschlandlieds an: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt, / wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält. / Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt - / Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“.

(11) Das Nicht-Zeigen dieser zeitgeschichtlich bedeutungsvollen Begebenheit seitens des Regisseurs betrachten wir als blanke und augenscheinliche Geschichtsverfälschung, der nicht mit künstlerischer Freiheit beizukommen ist, denn

(12a) der Vorfall war kein, irgendein mittelbares Detail, das sich um das ‘Wunder von Bern’ ereignete. Er trug sich unmittelbar im Stadion zu, in der Stätte des deutschen Triumphs, die Wortmann ausführlich und detailgetreu in Szene setzt. Außerdem löst er nicht nur im Rückblick gewisse Konnotationen aus, sondern wurde auch zum historischen Zeitpunkt als höchst bedeutsam interpretiert, den man nicht einfach so übersehen und übergehen konnte bzw. wollte. Die schweizerische Rundfunk stoppte ihre Live-Übertragung und die ausländischen Medien schrieben am nächsten Tag: „Die Musik intoniert ‘Deutschland, Deutschland über alles’. Die Menge singt mit. Die Erde zittert. Es regnet. Es regnet, und mir ist kalt. Schon bald, während die 60 000 Deutschen schrieen, durchfiel mich ein Schaudern“ (Le Monde, Paris); „Überall in Europa überlief es Tausende von Radiohörern und Fernsehern kalt bei der Auswirkung, die der Sieg sofort hatte. Es fehlte offenkundig nur ein ‘Sieg Heil’, um die ganze Stimmung von der Berliner Olympiade wieder entstehen zu lassen. Die Deutschen sangen ‘Deutschland, Deutschland über alles’, dass es dröhnte. Und es sah so aus, als ob dieser Sieg den aufwog, der 1940 bis 1945 ausgeblieben war“ (Information, Kopenhagen).

(12b) nach der Struktur des Films, alle Szenen der deutschen Nationalmannschaft, in denen keine fiktiven Figuren auftreten, authentisch zu drehen oder wirken zu lassen, hat dieser Vorfall gar nicht stattgefunden. Und wie viele wissen schon nach einem halben Jahrhundert, welche Misstöne wirklich das „Wunder von Bern“ im Kleinen und die deutschen Nachkriegsjahre im Großen begleiteten?!
Ibrahim Cindark